Traue(r)n wir uns!
Trauer ist ein Gefühl, das nach Öffentlichkeit verlangt: wie die Tränen von innen nach außen fließen, ist Trauern ein sozialer Akt – im stillen Kämmerlein trauert sich’s zwar un-verschämt, aber wirkungslos. Denn das Trauern - das ja nicht hergestellt werden kann, sondern aus uns hervorbricht – ruft uns in eine Tiefe, in die wir nur durch vollkommenes Loslassen gelangen können. Wer aber würde auf offener See einen tiefen Tauchgang ins Unbekannte ohne Begleitung durchführen?
Jeder Wandel, der seinen Namen verdient, geschieht in der Tiefe. Trauern kann also – anders als chronifizierte Traurigkeit – zum Wandel führen, indem es bislang verkrustete Tiefenstrukturen lockert. Wenn denn Erlaubnis für das Loslassen besteht…
Vorab gilt es wohl die Gitterstäbe aus ihren Verankerungen zu lösen, hinter die die Funktionslogik der neuzeitlichen Gesellschaft das Trauern als Störenfried gesperrt hat. Kommen jemandem heute in Gesellschaft die Tränen, wird man umgehend ein geschnieftes „Entschuldigung“ hören. Entschuldigung wofür?
Zu trauern ist nicht nur heilsam und entlastend, grenzerweiternd und damit innovationsfördernd, sondern auch zutiefst demokratisch und friedensstiftend: das haben Nelson Mandela, Desmond Tutu und der African Council erkannt, als sie nach dem Ende der Apartheid in jedem Dorf Südafrikas zum gemeinsamen Trauern einluden – und damit zur Versöhnung. Denn unter Groll, Hass und Vorurteil wohnt die Wut. Unter ihr aber wohnen in der Tiefe Trauer und Schmerz.
Mit wem auch immer ich gemeinsam geweint habe, kann ich nicht mehr hassen. Der Nahe Osten ist seit 7000 Jahren beinahe durchgängig Schlachtfeld, weil er kein gemeinsames Tränenmeer ist…
Trauer braucht also Räume: Erlaubnisräume. Solche Erlaubnis zu gewähren und damit gesellschaftlichen Raum einzuräumen, ist ein Kulturprozess – und somit nicht nur ein sozialer, sondern vielmehr auch ein poolitischer Akt. Ein Akt, der vom monopolitischen Diktat patriarchaler und kolonialistischer Stärke, Perfektion und Unfehlbarkeit ebenso erlöst wie vom „Wahnsinn der Normalität“ (Arno Gruen), der seine Erkrankung als Realismus tarnt.
Solcherart erlöst, öffnet sich uns ein Weg, den wir erst wenige Schritte gegangen sind:
den Weg zu einer tieferen und weiteren Demokratie.
Gerald Wohlgang Koller, 2024